Anna und die Zauberin der Wut: Wie sie lernte, ihre größte Angst in Stärke zu verwandeln
Ich liebe Geschichten. Schon immer, denn sie helfen uns so oft Dinge zu verstehen und greifbarer zu machen. Passend zum Blogartikel letzter Woche, habe eine Geschichte für dich geschrieben, die dir hilft zu verstehen, wie wichtig die Wut auf dem Weg raus aus der Essstörung ist und warum du keine Angst vor ihr haben musst.
Anna
war schon als Kind ein lebhaftes Mädchen. Sie liebte es laut zu lachen und die Welt zu erkunden und hatte ein starkes Gespür für Ungerechtigkeit. Wenn sie spürte, dass etwas nicht richtig war, zeigte sie das deutlich – oft in Form von Wut. Doch viele Menschen in ihrem Leben mochten diese Seite von ihr nicht. Ihre Eltern sagten ihr, dass brave Mädchen nicht wütend seien, und in der Schule wurde sie für ihre Emotionen verspottet. „Du bist viel zu laut, Anna,“ hörte sie immer wieder. „Reiß dich zusammen!“ „So benehmen sich keine richtigen Mädchen!“
Mit der Zeit begann sie zu glauben, dass ihre Wut falsch sei und weil sie gar nicht wusste wohin sie diese Wut stecken konnte, begann sie sie tief in sich zu vergraben. So lernte Anna, ihre Wut zu unterdrücken.
Stattdessen versuchte sie nun ruhig und kontrolliert zu bleiben, selbst wenn sie spürte, dass ihre Grenzen überschritten wurden. „Denn richtige Mädchen sind nett, lieb und perfekt und schreiben gute Noten.“ „Und wenn ich immer lächele und meine Wut nicht zeige, dann werde ich gemocht“, sagte sich Anna immer und immer wieder. Doch an manchen Tagen schaffte es die Wut aus den Tiefen von Annas Innerem hervorzuklettern. Diese Tage waren schrecklich, denn die Wut kam wie ein riesiges Monster, das Anna überrollte und völlig die Kontrolle übernahm. In diesen Momenten schrie sie, weinte und tobte. Es war als ob die Wut alles nachholen müsse, was sie in den letzten Wochen nicht gedurft hatte. Nach diesen Tagen fühlte Anna sich immer schrecklich. „Ich habe versagt“, „Ich war wieder wütend“, „Ich war wieder schlecht“. Die Scham über diese Ausbrüche lastete schwer auf ihr und raubte ihr fast den letzten Atem. Sie wollte dieses Gefühl nicht spüren und sie schaffte es nicht so gut auch dieses Gefühl noch in sich zu verstecken, also aß sie. Sie stopfte Essen in sich hinein, immer mehr und mehr und versuchte diese schreckliche Wut und die Scham hinunterschlucken. Immer tiefer und tiefer. Danach versuchte sie wieder alles unter Kontrolle zu bringen und verbot sich zu essen und aß nur noch ganz bestimmte Dinge, die in ihrem Kontrollplan erlaubt waren. Es war ein endloser Kreislauf aus Scham, Essen und Selbstkontrolle. Mit den Jahren zog sich Anna immer weiter zurück. Ihre Welt wurde kleiner, ihr Herz schwerer. Sie vermied Menschen, um nicht erneut in Situationen zu geraten, in denen ihre Wut hervorkommen könnte. Sie lebte isoliert und gefangen in ihrer Angst vor der Wut – und vor sich selbst.
Margania
Eines Tages, als Anna wieder einen besonders schrecklichen Tag hatte, hielt sie es nicht mehr aus und lief in den Wald. Sie weinte und war voller Verzweiflung und kämpfte sich ihren Weg durch die Bäume und Büsche bis sie stolperte und erschöpft am Boden aufkam. Genau in diesem Moment hörte sie ein Geräusch. Erschrocken blickte sie sich um und sah eine alte Frau auf sie zukommen. Diese Frau hatte etwas Magisches an sich – ein Leuchten in ihren Augen, das sie ganz jung wirken ließ und das Vertrauen ausstrahlte. Sie stellte sich als Margania die Zauberin vor und sagte, sie hätte Annas Schmerz durch den ganzen Wald hindurch fühlen können. „Du hast Angst vor deiner Wut“, sagte die Zauberin sanft. „Doch weißt du was Anna, Wut ist nichts, wovor du dich fürchten musst. Sie ist eine mächtige Kraft und wenn du lernst, mit ihr umzugehen, kann sie dir helfen.“ ✨
Anna verstand nicht von was die Zauberin redete. „Wut eine mächtige Kraft, die ihr helfen kann?“ So ein Schwachsinn!! Wut hatte ihr bis jetzt nur Probleme bereitet. Sie schaute Margania missmutig an, aber die Zauberin lies sich davon nicht beirren. Fröhlich fuchtelte sie mit ihrem langen, braunen Stock herum und auf einmal ploppte eine Zauberkugel vor ihr auf. Sie winkte Anna zu sich her. „Schau hier rein Anna, ich möchte dir etwas zeigen“ In der Kugel sah Anna einen schwarzblauen Wolkentornaro herumwirbeln, der sich aufeinmal lichtete und eine Szene aus Annas Vergangenheit zeigte:
Sie sah ein kleines Mädchen, dass nicht essen wollte und wütend darüber wurde, dass sie essen sollte. Und sie sah, wie ihre Eltern ihr sagten, dass brave Mädchen sich nicht so aufführen und den Teller leer essen.
Sie sah, wie eine Klassenkameradin sie in den Bauch zwickte und Anna sie anschrie sie solle das lassen und wie im gleichen Moment eine Lehrerin kam und Anna schimpfte, sie solle nicht so rumschreien.
Sie sah sich als sie ihren ersten Freund hatte, der manchmal richtig gemeine Dinge zu ihr sagte und der sie, als sie begann sich zu wehren, anschrie und sagte: „Du bist einfach so eine Zicke! Ich habe keine Lust mehr auf dich! Du brauchst dich nicht wundern, wenn du in Zukunft keinen mehr abbekommst, so unweiblich, wie du bist!
Die Zauberin sah Anna an. „Was denkst du Anna, war es in diesen Momenten richtig wütend zu sein? Hattest du ein Recht darauf wütend zu sein?“ Anna hatte Tränen in den Augen. „Ich glaube schon“; flüsterte sie. „Ich glaube, ich wurde da richtig schlecht behandelt und habe nur versucht meine Grenzen zu verteidigen und den anderen Menschen hat das nicht gepasst und sie haben mir gesagt, dass ich falsch bin.“ Die Zauberin nickte und sprach ruhig weiter: „Ganz genau Anna, Wut ist wie eine Kompassnadel. Sie zeigt dir, dass du vom Kurs abgekommen bist und deine Grenzen überschritten wurden, dass du verletzt wurdest. Es ist nichts Falsches daran, sie zu fühlen. Deine Grenzen wurden als Kind so oft übergangen, dass du jetzt eine wahnsinnige Angst hast, dass das nochmal passiert, und deshalb bist du oft so wütend. Und die Wut möchte dir das unbedingt sagen, deshalb versucht sie immer wieder aus deinem tiefen Inneren, wo du sie einsperrst, herauszuklettern und weil du sie die ganze Zeit wieder runterdrückst, muss sie dreifach so stark werden, um gehört zu werden.“ Die Zauberin nahm Annas Hand: „Weißt du was Anna“, sagte sie liebevoll „ich kann dich so gut verstehen und ich möchte dir beibringen, wie du mit deiner Wut umgehen kannst und dafür zeige ich dir jetzt ein paar magische Tricks. Wenn du die Wut das nächste Mal spürst und das Gefühl hast, dass sie dich überwältigt, dann atme erstmal ganz tief ein und aus, mach mir das mal nach. Eiiiiiiiiiiiiiiin, die Luft halten und Auuuuuuuuuuuuus. Und dann sprichst du mit ihr. Frage sie, was sie dir sagen will. Du kannst zum Beispiel sagen: „Ich bin so wütend! Und ich weiß gar nicht warum! Wut! Warum bist du da?“ Und wenn du das Gefühl hast, dass sie dich trotzdem immer noch überwältigt, dann schreie laut in ein Kissen oder schlage fest darauf ein. Bewegung hilft der Wut, sich aus deinem Körper zu befreien, ohne dass sie dir oder anderen schadet. Wichtig ist, dass sie aus dir rauskommt, Anna. Versprich mir, dass du versuchst, deine Wut zu fühlen und nicht mehr mit Essen versuchst runterzuschlucken.“ Auf einmal raschelte es hinter einem Baum. Anna blickte sich erschrocken um, doch sah nichts und als sie wieder umdrehte, war die Zauberin verschwunden.
Den ganzen Weg nach Hause dachte sie über das nach, was die Zauberin ihr gesagt hatte. Sie wusste immer noch nicht so ganz ob sie all das glauben konnte, was sie in der Zauberkugel gesehen hatte und was Margania ihr erklärt hatte, aber sie sagte sich, dass sie es auf jeden Fall ausprobieren wolle. Und das tat sie auch.
Die Magie der Wut
Beim ersten Mal als sie die Wut wieder spürte war sie noch zögerlich. Sollte sie sie wirklich zulassen? Aber sie wollte es probieren. Sie spürte die Wut. Spürte, wie sie ihren ganzen Körper ausfüllte, spürte das brennen in ihrem Bauch. Sie hatte wahnsinnige Angst und doch erinnerte sie sich an Marganias Worte. Sie nahm ein Kissen und schrie ganz laut rein, so laut sie konnte: „Warum bist du da??!!! Was willst du mir sagen!! Ich bin so wütend.“
Das tat Anna immer und immer wieder. Es kamen noch viele Wutanfälle, doch irgendetwas wurde anders. Je mehr sie die Wut spürte, je mehr sie mit ihr interagierte, je mehr sie sie manchmal einfach rausschrie, je mehr sie erkannte, dass sie manchmal wütend war, weil sie dachte, dass sie angegriffen werden würde und das eigentlich gar nicht wurde, desto mehr veränderte sich etwas in ihr. Die Wut, die sie immer als Monster gesehen hatte, fühlte sich plötzlich wie eine starke Verbündete an. Wannimmer Anna sie jetzt spürte, fragte sie sich sofort: „Was ist passiert? Vor was, willst du mich schützen?“
Mit der Zeit begann Anna, ihre Wut anders zu sehen. Sie erkannte, dass sie sie nicht länger unterdrücken musste. Und etwas Erstaunliches geschah: Je mehr sie ihrer Wut erlaubte, da zu sein und mit ihr zu arbeiten, desto weniger fühlte sie den Drang, Essen zu benutzen, um die Scham zu betäuben. Ihre Beziehung zu sich selbst veränderte sich. Sie fühlte sich stärker, mutiger und freier. Die Wut war nicht mehr das Monster, dass sie mit allen Mitteln versuchte einzusperren, sondern die Wut war eine Freundin geworden, die Anna unterstützte und ihr half, ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu verteidigen. Anna isolierte sich auch nicht mehr, denn sie konnte mittlerweile auch ganz anders sprechen, wenn sie wütend war und den anderen Menschen respektvoll mitteilen, wenn sie zu weit gegangen waren und wenn sie wütend war.
Die neue Zauberin
Anna wurde älter und ging immer mal wieder in den Wald, denn sie hoffte eines Tages Margania der Zauberin wieder zu begegnen und ihr zu danken. Doch sie sah Margania nie wieder und irgendwann war sie selbst in dem Alter, in dem Margania gewesen sein musste, als sie sie damals getroffen hatte. Anna saß eines Abends in ihrem Wohnzimmer, ihre Enkelin auf dem Schoß, die auch sehr laut war und sie immer sehr an sie selbst erinnerte. Ihre Enkelin war richtig wütend darüber, dass Mama Ihr Spielzeug genommen hatte ohne sie zu fragen und sie dann auch noch geschimpft hatte und sie sich jetzt fruchtbar schämte. Also nahm Anna sie in die Arme und erzählte ihrer kleinen Enkelin ihre Geschichte und aufeinmal spürte sie, dass die Magie Marganias mittlerweile auch in ihr ruhte und sie selbst zu einer Zauberin geworden war, die dank ihrer eigenen Geschichte und Erfahrung anderen helfen konnte mit ihren Gefühlen umzugehen.
Deine Wut ist ein Geschenk, du musst nur lernen es richtig auszupacken 🧡
Es ist nicht immer leicht, aber es ist’s so wert!
Alles Liebe
deine Julia