Bedürfnisse erkennen: Wie du lernst, auf dich selbst zu hören und deine Essstörung zu überwinden

Lange Zeit wusste ich nicht, was Bedürfnisse eigentlich sind. Wie auch? Es wird einem nicht beigebracht auf seine Bedürfnisse zu hören und das Ignorieren von Bedürfnissen fängt oft schon im Kindesalter an.

  • Du willst Tante Sabine nicht auf die Wange küssen? Warum denn? Ach komm schon, da ist Tante Sabine aber enttäuscht, wenn du das nicht machst.

  • Wie du wolltest nicht gekitzelt werden? Aber du hast doch gelacht? Übertreib doch nicht so.

  • Du bist aber heute wieder bockig. Da ist der Papa aber ganz traurig.

  • Jetzt wein doch nicht, das war doch gar nicht sooo schlimm.

Bereits als Kindern werden uns unsere Gefühle abgesprochen und dargestellt als ob sie falsch, unpassend oder übertrieben wären. Die Schwierigkeit dabei ist, dass wir als Kinder noch nicht in der Lage sind solche Situationen zu hinterfragen. Wir saugen sie einfach auf und lernen:

  • Wenn ich jemanden nicht berühren möchte, obwohl er mich berühren möchte, dann ist der andere Mensch enttäuscht, wenn ich es nicht tue.

  • Wenn ich sage, dass ich nicht mehr angefasst werden möchte – während ich lache – meine ich das eigentlich gar nicht so.

  • Wenn ich nicht gut gelaunt bin, mache ich einen anderen Menschen traurig.

  • Wenn ich weine, übertreibe ich.

Und mit diesem erlernten Verhalten wachsen wir auf und denken, es sei ganz normal.

In der Erwachsenenwelt geht es dann weiter

  • Du bist müde. Trink einfach einen Kaffee mehr!

  • Du bist krank. Schlepp dich trotzem in die Arbeit! Was dich nicht umbringt, mach dich stärker und nächste Woche ist Projektschluss.

  • Du fühlst dich erschöpft – Wie? Du hast doch heute nur 3 Stunden gearbeitet. Warum bist du denn erschöpft??

Bedürfnisse werden konstant ignoriert und trotzdem spürt man doch immer mal wieder, dass da irgendwas ist, was sich komisch anfühlt und man versteht gar nicht warum, denn unser Körper weiß, dass es zu viel ist! Sagt was uns eigentlich gut tut und was nicht und versucht uns das durch Gefühle zu kommunizieren.

Nur sind wir ja aufgewachsen mit dem Glauben, dass unsere Gefühle falsch sind. Dass wir ihnen nicht trauen können, denn das haben doch die anderen Menschen gesagt. “Ach du übertreibst!”, “Es war doch gar nicht so schlimm!”

Also ignorieren wir sie. Wir wollen sie nicht, diese komischen Gefühle. Doch sie wollen gehört werden. Also werden sie lauter und irgendwann schafft man es nicht mehr sie zu ignorieren.

Man braucht irgendetwas anderes, um diese Gefühle endlich nicht mehr spüren zu müssen. Und da kommt Essen ins Spiel.

Warum hast du Essanfälle oder kontrollierst Essen?

  • Vielleicht hast du mehrere Fressanfälle in der Woche. Wo du isst und isst und isst, um endlich nicht mehr spüren zu müssen. Essen lenkt ab und wenn man irgendwann so voll ist und kurz vor dem Zerreisen steht dann ist man darauf konzentriert. Dieses Gefühl ist zwar schrecklich, aber wenigstens ist es „echt“. Denn du kannst beweisen, dass du randvoll bist und hast zumindest eine Erklärung für dieses Gefühl.

  • Vielleicht brichst du nach deinem Essanfall auch alles aus. Es soll alles raus. Essen, Schmerz, komische Gefühle. Du kotzt so sehr, dass am Ende nur noch eine Leere übrigbleibt, in der alles taub ist und du endlich nichts mehr fühlst und gleichzeitig auch noch abgelenkt wirst durch das ewige Putzen, was nach dem Brechanfall auf dich wartet.

  • Vielleicht hast du aber auch beschlossen nicht mehr zu essen und Essen zu kontrollieren. Du willst dich mächtiger fühlen als alle anderen, mächtiger als diese so unkontrollierbar wirkenden Gefühle. Also richtest du deinen ganzen Fokus auf wann du isst, wo du isst, was du isst, wie du es isst und wie viel davon. Bedürfnisse werden weggehungert.

 

Wie du deine Bedürfnisse wieder erkennst

Du hast nie gelernt, dass du Bedürfnisse hast und zu diesen Bedürfnissen stehen darfst. In vielen Situationen fühlst du, dass etwas nicht stimmt. Doch du kannst es nicht benennen, denn deine Gefühle wurden dir lange Zeit abgesprochen und als falsch abgestempelt und deshalb übergehst du deine Bedürfnisse täglich und unwissentlich. Und der einzige Spiegel davon ist deine Essstörung, die dir ganz deutlich zeigt, dass etwas nicht stimmt.

Was kannst du also tun, um wieder zu lernen, deine Bedürfnisse zu hören und wahrzunehmen?

Plane dir bewusst Momente für Stille ein.

Und ich kann verstehen, wenn dir das erst mal Angst macht. Ich hatte früher immer panische Angst vor Stille, da Stille für mich Essanfall hieß. Starte also ganz klein.

  • Vielleicht bleibst du auf dem Weg nach Hause, an einer Stelle an der du dich sicher fühlst,einfach 5 Minuten stehen und schließt die Augen und atmest tief ein und aus

  • Vielleicht gibt es auch einen Menschen in deinem Leben, der dir helfen kann für 5 Minuten in Stille zu sein. Der einfach neben dir sitzt oder liegt ohne zu sprechen.

  • Vielleicht kannst du morgens nach dem Aufwachen eine kleine Meditation machen

Frage dich im Moment der Stille

  • Wie geht es mir gerade?

  • Was nehme ich in meinem Körper wahr?

Wenn Antworten kommen wie: Es ist alles so anstrengend, ich fühle Traurigkeit, ich fühle mich gestresst, ich fühle mich müde

Frage dich weiter:

  • Was könnte mir jetzt helfen, damit ich mich besser fühle?

Wenn die Antwort darauf ist: Essen

Dann frage dich.

  • Wenn ich jetzt essen würde, wie wäre meine Umgebung und wie würde ich mich fühlen?

Wäre es ruhig und du würdest dich entspannt fühlen? Dann ist dein Bedürnis Ruhe und Entspannung.

Wärst du mit Menschen zusammen und würdest dich dazugehörig fühlen? Dann ist dein Bedürfnis Gemeinschaft und Verbindung

Ich weiß, es ist am Anfang nicht leicht und es braucht Übung und manchmal kommen auch Gedanken hoch wie „Ach das klappt einfach nicht und hat doch eh keinen Sinn.“

Ich ermutige dich dranzubleiben und dir auch zu überlegen warum du das machst. Du machst es für dich, die Verbindung zu dir und dein Leben ohne die Essstörung und wenn du Unterstützung möchtest für deinen Weg raus aus der Essstörung, dann melde dich jederzeit bei mir.

Es ist nicht immer leicht, aber es ist´s so wert!

Alles Liebe

deine Julia

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