Kann man eine Essstörung überwinden ohne zuzunehmen?
Ich kann nicht zählen wie viele Versuche ich in der Vergangenheit gestartet hatte, um meine Essstörung endlich zu beenden.
Der Ablauf war immer der gleiche:
Ich verbannte alle Nahrungsmitte, die ich sonst während eines Fressanfalls aß, aus dem Haus. Entweder brachte ich sie zu Freundinnen, schmiss sie weg oder spendete sie. Das Wichtigste war, dass sie nicht mehr in meiner Wohnung waren. Dann räumte ich meine Wohnung perfekt auf, putzte alles und freute mich über mein Vorhaben von nun an keinen Essanfall mehr zu haben. Diese Euphorie, hielt dann meistens für 2, höchstens 3 Tage an, bis mein Plan dann durchkreuzt wurde durch die Waage, die mir nach wenigen Tagen ein höheres Gewicht anzeigte. Meine innere Alarmanlage begann laut zu heulen, denn ich wollte zwar keinen Essanfall mehr haben, aber noch mehr wollte ich AUF KEINEN FALL zunehmen.
Diese Angst vor der Zunahme stand lange Zeit zwischen mir und meiner Heilung.
Und selbst, als ich endlich die finale Entscheidung traf zu heilen, war das an den Kompromiss geknüpft eine Zunahme nur zum Teil zu akzeptieren.
Das bedeutete
nur bis zu einem speziellen Gewicht zuzunehmen
weiterhin Sport zu machen, damit ich nicht nur Fett, sondern vor allem an Muskelmasse zunahm.
Aber kann man heilen ohne zuzunehmen?
Aus meiner heutigen Erfahrung kann ich sagen, dass ich ohne meine Zunahme niemals hätte komplett heilen können. Die Zunahme ist aus 2 Gründen enorm wichtig
Grund 1
Ein Körper der jahrelang ums Überleben gekämpft hat und täglich mit minimaler Nahrungsaufnahme, Diäten und Restriktionen konfrontiert war, ist ausgehungert und erschöpft - und dabei spielt es keine Rolle, welches Gewicht er gerade hat. Dein Körper war jahrelang im Krieg und braucht eine Zunahme, damit er sich wieder revitalisieren und regenerieren kann. Damit er die Vitamine, Mineralien und Nährstoffe bekommt, die er so dringend braucht, um überlebenswichtige Prozesse (zb Immunsystem) durchführen zu können.
Grund 2
Der aber noch viel wichtigere Grund ist der mentale Aspekt. Wenn du eine Essstörung hast, dann identifizierst du dich wahrscheinlich sehr stark über deinen Körper und weiß gar nicht, wer du eigentlich abgesehen von ihm bist. Du benutzt immer deinen Körper, um eigentlichen Ängsten aus dem Weg zu gehen und dich wirklich mit dir selbst zu befassen. Deine Angst vor der Zunahme ist nicht die reine Angst zuzunehmen, sondern das, was du mit dem Zunehmen verbindest.
Ich hatte zu Beginn meiner Recovery 10 Kilo zugenommen. Diese 10 Kilo waren in der von mir erlaubten Gewichtsrange gewesen. Zwar fand ich es nicht toll das zuzunehmen, aber mit 10 Kilo mehr hatte immer noch nicht meinen Schmerzpunkt erreicht. Ich war immer noch dünn genug, um in meiner Komfortzone zu sein. Erst als ich weitere 12 Kilo zunahm, musste ich mich wirklich mit mir selbst und meiner Angst auseinandersetzten und verstand dabei, dass die Angst vor der Zunahme eigentlich nur eine sehr gut, getarnte Fassade ist.
Hinter der Fassade Zunahme ist das, was wirklich deine tiefe Angst auslöst.
Bei mir war das die Angst nicht mehr geliebt zu werden, da ich in der Kindheit gelernt hatte, dass ich schlank sein muss, um geliebt zu werden. Es war also nicht wirklich die Angst vor einer Zunahme, sondern all das was eine Zunahme für mich symbolisierte und welche ich mit einem dünnen Körper versuchte zu unterdrücken.
Die tiefe Angst ausgestoßen zu werden, nicht mehr geliebt zu werden und verlassen zu werden.
Hinterfrage deine Angst
Wenn du gerade in der Situation bist, in der die Angst vor der Zunahme deinen Schritt in die Heilung verhindert, dann frage dich:
Was verbinde ich mit einer Zunahme? (z.B nicht mehr gemocht zu werden, nicht mehr schön zu sein, nicht mehr erfolgreich zu sein ect.)
Ist das wirklich wahr, dass ich nicht mehr gemocht werden, nicht mehr schön bin ect. wenn ich zunehme?
Was repräsentiert die Zunahme für mich?
Was ist anders, wenn ich 5, 10, 15 Kilo mehr wiege?
Was passiert dann?
Was ist der positive Aspekt einer Zunahme?
Was kann ich tun, was ich jetzt noch nicht tun kann, wenn ich zunehme?
Für was lohnt sich die Zunahme?
Was will ich wirklich im Leben?
Ich weiß, dass eine Zunahme nicht leicht ist, da sie viele Ängste und ungute Gefühle zum Vorschein bringt, die man jahrelang nicht fühlen wollte. Eigentlich ist die Zunahme, das Beste was dir passieren kann, aber es fühlt sich absolut nicht so an und das ist der schwierigste Teil daran.
Aber glaub mir, es wird besser und es ist nur eine kurze Phase deines Lebens, dank der du das Leben führen werden kannst, das du wirklich möchtest! Und falls du Unterstützung für diese Phase deines Lebens möchtest, dann melde dich jederzeit bei mir.
Bis dahin alles Liebe
Deine Julia